Heute ist der 16. April 2023. Unser Tag, wo wir die 10-tägige Vipassana Meditation in Mont-Soleil (Schweiz) mit Blick auf den Chasseral beendet haben. Es war unser zweites Retreat. Unser erstes haben wir als Abschluss unserer Weltreise im August 2019 in Hausham (DE) gemacht. Es war schon damals eine tiefgreifende Erfahrung, welche ich hier festgehalten hatte.

Seit heute Mittag sind wir wieder Zuhause und wir realisieren langsam, was in den letzten Tagen passiert ist und was ich alles in Gedanken erlebt habe. Eine Herausforderung ist sicher auch, dass man die Komfortzone verlassen muss.

Man hat in der Regel ein Zimmer mit fremden Frauen (Eik mit Männern, denn die Geschlechter sind strikt getrennt). Beim ersten Mal hatte ich drei tolle deutsche Frauen im Zimmer und dieses Mal war ich ebenfalls mit zwei sehr netten Amerikanerinnen im Zimmer (in der Schweiz wohnhaft). Man lernt sich am ersten Tag bei der Anreise ganz kurz kennen und klärten, wie wir unser Zimmer lüften möchten. Je nach dem, muss auch abgestimmt werden, wer wann duschen geht etc.
Am Anreisetag darf man ab ca. 19 Uhr nicht mehr miteinander kommunizieren und ich verabschiedete mich von Eik für die kommenden 10 Tage.
Es ist keinerlei Kommunikation mit irgendjemandem erlaubt. Weder verbal, mit Gesten noch mit Blickkontakte. Die sogenannte “noble Stille” tritt in Kraft. Ab dann schaut man die ganze Zeit aneinander vorbei, lebt in einem Haus, schläft mit fremden Menschen im gleichen Zimmer (mit beschränkter Privatsphäre) und meditiert gemeinsam in der Halle.

Insgesamt haben wir rund 100 Stunden meditiert. Am Abend des dritten Tages galten neue Regeln. Man durfte ab dann während einer Stunde die Sitzposition nicht mehr verändern. Das heisst, wenn man sich im Schneidersitz positioniert und die Hände im Schoss hatte, musste man genau diese Position während 60 Minuten halten. Zusätzlich mussten die Augen geschlossen bleiben. Den Rücken konnte man zwischendurch durchstrecken oder den Nacken neigen, aber die Grundposition (Arme, Beine, Augen) blieb unverändert. Schmerzte der Rücken, musste man das aushalten bzw. aussitzen. Dies war zum Glück nur 3x am Tag vorgegeben. Am Ende waren es trotzdem 19h in derselben Sitzposition. Phuuuu…

Obwohl ich vom ersten Retreat noch wusste, dass dieser Tag kommen wird, war ich noch nicht dafür bereit. Es entstand in mir ein enormer Druck, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich das aushalten soll. Zu sehr hatte ich Schmerzen und wechselte häufig die Sitzposition. Jedoch weicht man mit jedem Positionswechsel dem Schmerz aus. Das ist nicht die Idee, denn man sollte sich dem stellen.
Schlussendlich gelang es mir fast in jeder Session die Position zu halten.

Nochmal zur Erklärung, falls jemand den ersten Blog nicht oder schon lange nicht mehr gelesen hat.
Man meditiert rund 10h/Tag. In derselben Position verharren muss man jedoch “nur” 3h/Tag (je 1h). Für diese Meditationen geht man in die Halle, denn es gibt Audioanweisungen, welche die Vipassana Technik von Tag zu Tag erläutern. In den ersten Tagen lernt man immer wieder einen Schritt dazu und gegen Ende beherrscht man die Technik.
In der Meditationshalle sitzen etwa 35 Frauen und 35 Männer (Frauen auf der einen Seite und Männer auf der anderen). Man sitzt auf einer quadratischen Matte, welche man im Schneidersitz ausfüllt. Zur nächsten Person nach vorne und hinten hat man ca. 30cm Abstand und zu beiden Seiten etwa 10cm. Der Sitzplatz wird einem am ersten Abend zugewiesen und den behält man für die ganze Zeitdauer. (Das Zimmer sowie das Bett wird einem übrigens auch zugewiesen.)
In den restlichen Meditationsstunden kann man selber wählen, ob man im Zimmer oder in der Halle meditieren möchte. Man kann auch die Location während diesen Stunden wechseln. So kam es häufiger vor, dass ich zu Beginn in die Halle meditierte und wenn es mit Sitzen nicht mehr ging, konnte ich ins Zimmer wechseln. Im Bett konnte ich wenigstens die Beine ausstrecken und meinen Rücken an der Wand anlehnen. Die ersten Tage bin ich permanent dem Sekundenschlaf verfallen. Es fiel mir sehr schwer, mich auf die Meditation zu konzentrieren, zumal mir x Gedanken durch den Kopf flitzten. Und um 4 Uhr aufzustehen ist so eine Sache.

Eine weitere Herausforderung war, sich nur mit seinen eigenen Gedanken auseinandersetzen zu müssen und diese mit niemandem teilen zu können. Man muss mit seinen eigenen Emotionen umgehen.
Handy, Buch, Notizblock oder ähnliches sind nicht erlaubt und werden eingeschlossen. Viele Male hätte ich mir gewünscht, die Gedanken aufschreiben zu können, aber das ging nicht. So versuchte ich diese einzuordnen, zu verarbeiten und hoffte, die guten Ideen oder Erkenntnisse am Ende noch im Kopf zu haben, was mir auch gelang.

Bei den Mahlzeiten stellt sich eine nach der anderen in der Schlange fürs “Buffet” an und wartet geduldig ohne vorzudrängeln bis sie an der Reihe ist. Das Essen war rein vegetarisch und einfach gehalten.
Da ich keine Lust hatte, mich anzustellen, nutzte ich die Zeit jeweils um zu Duschen oder Spazieren zu gehen. Essen gab es für alle genug und bereits 10 Minuten nach “Buffeteröffnung” war kein Anstehen mehr notwendig.
Während des Essens schaut man sich selbstverständlich auch nicht an. Im Essensraum hört man lediglich das Geschirr klimpern.

Wenn man schon mal ein 10-tägiges Retreat beendet hat, zählt man zu den “alten Schülern”. Die alten Schüler bekommen die letzte Mahlzeit um 11 Uhr. Die “neuen Schüler” um 17 Uhr (ein paar Früchte). Wir zählten zu den Alten. Klar knurrte manchmal am Nachmittag oder Abend der Magen, aber man bewegt sich den ganzen Tag nur gering.

Unser Tagesablauf:
04.00 Uhr Weckgong
04.30 – 06.30 Uhr: 2h Meditation
06.30 – 08.00 Uhr: Frühstückspause
08.00 – 11.00 Uhr: 3h Meditation (davon 1h in der Halle)
11.00 – 13.00 Uhr: Mittagspause und letzte Mahlzeit
13.00 – 17.00 Uhr: 4h Meditation (davon 1h in der Halle)
17.00 – 18.00 Uhr: Teepause
18.00 – 19.00 Uhr: 1h Meditation (in der Halle)
19.00 – 20.15 Uhr: Erklärung der Vipassana Technik
20.15 – 21.00 Uhr: 45 Min. Meditation (in der Halle)
ab 21.30 Uhr: Nachtruhe (endlich!)

Die ersten zwei Tage erwachte ich vor dem Gong. Es wurde jedoch von Tag zu Tag härter, so früh aufzustehen. Trotzdem ist das morgendliche Meditieren anders als tagsüber. Es ist alles noch verschlafen (auch ich ;)), die Leute verhalten sich sehr ruhig und rücksichtsvoll.
Geht man frühmorgens in die Meditationshalle, trifft man auf eine spezielle Stille und Atmosphäre.
Durch die “noble Stille” nimmt man die Umgebung und Natur viel intensiver wahr, denn es reden ja keine Leute.

Das Haus steht in der Natur an einem kleinen Waldrand. Während der Pausen kann man Spazierengehen. Die Aussenbereiche sind mit Absperrbändern gekennzeichnet. Die Männer haben ihren Auslauf unterhalb des Hauses und die Frauen oberhalb. Ja, es war wirklich wie ein Auslauf. Ich finde immer, es sieht aus, als wären Zombies aus einer Anstalt ausgebrochen.
Auch beim Spazieren blickt man sich nicht in die Augen, lächelt sich nicht an und ein “Hallo” fällt auch weg. Kreuzt man eine andere Teilnehmerin, schaut man auf den Boden oder an ihr vorbei.
Die Unterkunft liegt auf 1’200m und am Karfreitag Morgen begrüssten uns 15cm Neuschnee.

An einem der letzten Morgen ging ich um 4.30 Uhr vor die Haustüre, um frische Luft zu schnappen und wach zu werden. Es war eiskalt. Der Himmel war ausnahmsweise teils wolkenfrei und ich erblickte einen atemberaubenden Sternenhimmel. Es war traumhaft.

Die 10 Tage waren für mich: 

  • mega intensiv
  • sehr schmerzhaft
  • körperlich anstrengend
  • tiefgreifend
  • erleichternd 
  • sehr wertvoll
  • herausfordernd
  • bereichernd
  • emotional
  • bewusstseinserweiternd
  • realisierend
  • reflektierend
  • erdend
  • und wieder absolut lohnenswert

Fazit: es ist eine ausgeprägte Kopfsache, mit körperlichen Schmerzen umzugehen. Man lernt, den Schmerz wahrzunehmen und realisiert, dass dieser vergeht. Früher oder später. Manchmal gelingt einem besser und manchmal schlechter oder gar nicht. Ich weiss, es mag sich etwas komisch oder unfassbar anhören, wenn man das so liest. Es ist sehr schwierig zu beschreiben, wenn man das noch nie erlebt hat. Und jeder empfindet es auch ganz anders. Obwohl Eik und ich beide Mal zusammen das Retreat gemachte haben (jedoch räumlich voneinander getrennt), haben wir es unterschiedlich erlebt.

Eine wichtige Erkenntnis: Es ist alles vergänglich und im ständigen Wandel. Was passiert ist können wir nicht ändern und ist abgeschlossen. Darum sollte man sich über das vergangene auch nicht so viele Gedanken machen, denn es bleibt so, wie es passiert ist und kann nicht rückgängig gemacht werden.

Was war meine Motivation nochmals an einer 10-tägigen Meditation teilzunehmen?
Wenn ich jeweils im Retreat bin, sehe ich den Mehrwert zu Beginn noch nicht so sehr. Es gelten strenge Regeln, man muss früh aufstehen, verspürt Schmerzen, hat teilweise Hunger und manchmal hatte ich einfach keine Lust zu meditieren. Was soll daran gut sein? Dieses Mal wollte ich die ersten vier Tage sogar abbrechen.
Sobald das Retreat zu Ende ist, realisiere ich jeweils erst richtig was ich die letzten Tage durchlebt habe und was passiert ist.
Es fühlt sich an, als könnte ich ein paar Steine aus meinem Rucksack zurücklassen. Dinge und Themen, die ich vielleicht seit Jahren mit mir rumgetragen habe und mich belastet haben. Dinge aus der Kindheit, Jugend, Arbeitswelt, Beziehungen, zerbrochene Freundschaften, Todesfälle etc. etc. etc.

Emotionen, die ich nicht zugelassen habe, zulassen konnte oder wollte, kommen an die Oberfläche. Man taucht in eine tiefe Selbstreflexion. Auf diese Weise kann man Vergangenes verarbeiten und ich habe das eine oder andere schmerzvolle Thema zurücklassen bzw. abschliessen können.
Und genau das ist das Wertvolle daran, wofür ich einfach nur dankbar bin.
Die Schmerzen und die emotionale Achterbahnfahrt vergesse ich zum Glück jeweils sehr schnell wieder.

Was mich ebenfalls an Vipassana fasziniert: es ist rein spendenbasiert.
Das heisst, man zahlt am Ende den Betrag, den man möchte und kann. Kost und Logis sind gratis bzw. werden von diesen Spenden finanziert. Man verspürt absolut keinen Druck, überhaupt etwas spenden zu müssen (wird auch nicht kontrolliert), aber ich glaube, dass es jedem etwas wert ist.
Danke an die freiwilligen Helfer:innen, die für das Wohl der Teilnehmer:innen sorgen.
Nach Beendigung des Retreats folgen keine weiteren Spendenaufrufe oder dergleichen. Man wird in Ruhe gelassen. Ansonsten wäre es nicht mein Ding.

Einen traurigen Umstand gab es in der zweiten Nacht. Kaum waren wir im Bett, durchbrach ein lauter Schrei im Treppenhaus die Stille. Ich stand fast im Bett und mein Herz raste. Eine solche Situation fährt einem noch mehr ein, wenn man nicht kommunizieren darf und alles ruhig ist. Die beiden anderen in meinem Zimmer konnte ich auch nicht fragen, ob wir mal nachschauen sollen oder nicht. Kurz überlegte ich, vor die Türe zu gehen, tat es aber dann doch nicht, denn es war anschliessend kein Mucks mehr zu hören. Aus diesem Grund ging ich davon aus, dass es nichts Schlimmeres war, sondern sich zwei angerempelt haben. Trotzdem ging mir der laute Schrei nicht aus dem Kopf. Meine Zimmergenossinnen blieben auch im Bett.
Am letzten Tag des Retreats erfuhren, wir, dass eine der freiwilligen Helferinnen einen epileptischen Anfall hatte und die Treppe runtergestürzt war. Scheinbar kam sogar die Ambulanz und brachte sie ins Spital. Wir haben von all dem nach dem Schrei absolut nichts mitbekommen und es passierte unweit unseres Zimmers.
Glücklicherweise geht es der Frau wieder gut.

Am 10. Tag um 10 Uhr morgens wird die “noble Stille” aufgehoben und die Trennwand zwischen Männer und Frauen entfernt. So gewöhnt man sich wieder daran, sich mit Leuten zu unterhalten und man merkt, dass es allen ähnlich ging in den letzten 10 Tagen. Man sitzt im selben Boot, man ging durch Höhen und Tiefen, aber konnte sich mit niemandem darüber austauschen. Die Situation mit dem Schrei war eines der ersten Dinge, die wir angesprochen haben und auch da merkten wir, dass es allen gleich ging in diesem Moment.
Es war auch schön, zu erfahren wie es Eik erging.

Ich habe diesen Blog geschrieben, um zum einen meine Gedanken festzuhalten und zum anderen auch, um diese zu teilen. Niemandem möchte ich diese Vipassana Meditation aufschwatzen, denn jede:r muss für sich selber entscheiden, ob er/sie sowas ausprobieren möchte.

Für Eik und mich war es beide Male eine sehr wertvolle Erfahrung, welche schwer in Worte zu fassen ist und für andere schwer nachvollziehbar scheint.
Wenn ich jemanden davon erzähle, ist die Antwort fast durchgehend: “das könnte ich nicht.”
Können tuen es alle, aber man muss es wollen ;).

Und glaubt mir, ist man zurück in seiner Komfortzone, weiss man diese wieder viel mehr zu würdigen.

Wer sich dafür interessiert, findet die Infos hier.